Wie ein Perspektivwechsel mein Leben veränderte

Als ich klein war, erzählte mir meine Großmutter immer wieder von ihrer Zeit als Kindermädchen in New York. Es hat mich damals sehr fasziniert, dass sie „die Schiffskarte schon in der Tasche“ hatte, als sie meinen Großvater 1929 in Frankfurt kennenlernte. Sieben Jahre – sieben Sommer – mussten die beiden aufeinander warten, bevor sie 1936 endlich heiraten konnten.

Das Leben schreibt die spannendsten Geschichten

In den 1990er Jahren berichteten meine Großeltern eines Tages an der Kaffeetafel, sie hätten ausgemistet und „endlich die ganzen Briefe weggeschmissen“. Zu meiner großen Überraschung stellte sich heraus, dass sie all die Jahre rund 30 Briefe ihrer Fernbeziehung aufgehoben hatten. Auf meine Bitte hin fischten sie die Briefbündel noch am gleichen Abend mit einem Regenschirm wieder aus dem Müllcontainer. Bei der Auflösung ihres Haushalts einige Jahre später fanden wir sie dann – gut verpackt in einem Koffer im Keller. Es brauchte aber noch einige Zeit bis ich emotional bereit war, sie zu lesen.

Omas Spuren im Netz

Im Rahmen eines Sabbaticals besuchte ich 2006 einen Kurs über kreatives Schreiben. Dabei entstand die Idee, die Liebesgeschichte meiner Großeltern aufzuschreiben. Ich recherchierte online und erinnere mich noch sehr gut an die Aufregung, als ich erstmals den Namen meiner Großmutter auf der Passagierliste eines Transatlantik-Dampfers von 1935 las. Oma hatte tatsächlich noch vor mir Spuren im www hinterlassen!

Meine Reise durch die Zeit

Über die Jahre recherchierte ich mal mehr und mal weniger intensiv. Eine sehr wichtige Quelle war immer meine Mutter, die unzählige eigene Erinnerungen an Erzählungen aus der Zeit beisteuerte und meine Großmutter im hohen Alter noch befragte, während ich im Ausland war. Auch andere Verwandte wurden nach Anekdoten und Erinnerungen befragt. Viele persönliche Dokumente über Omas Arbeitgeber in New York und auch entfernte Verwandte, die meiner Großmutter in der Ferne die Familie ersetzten, konnte ich auf Seiten von Ancestry, Family Search und MyHeritage finden. Ich fand viele Hochzeits-, Geburts- und Sterbedaten der Menschen, die meiner Großmutter in der Zeit nahestanden. Durch meine Nachforschungen konnte mir ein genaueres Bild ihres Lebens in den 30er Jahren in New York machen.

Detektivarbeit und Glücksgriffe

Ich recherchierte in verschiedenen Datenbanken zu Auswanderungen mit dem Schiff und fand die erwarteten Belege für die Reisen meiner Großmutter. Sie reiste unter anderem mit einem Schiff, welches die Besatzung eines in Seenot geratenen Frachters rettete. Von dem Besuch Hitlers auf ihrem Dampfer zur Ehrung der Mannschaft hatte sie mir sogar einmal berichtet. Ich fand aber auch die für mich überraschende Information, dass sie mit einer anderen jungen Frau emigrierte, die ich selbst später als Tante Lina gut kannte.

Die dunklen Seiten der Geschichte

Die 30er Jahre waren herausfordernd – in Deutschland und in den USA. Meine Großmutter erreichte New York fünf Tage vor dem schwarzen Freitag, dem Börsencrash, mit anschließender “Great Depression” in Amerika. Sie arbeitete sieben Jahre lang als Kindermädchen bei einer jüdischen Familie und kehrte erst Ende 1936 wieder nach Deutschland zurück. Mein Großvater wurde in der Zeit Mitglied der NSDAP und der SS. Bei meinen Recherchen zum Nationalsozialismus erfuhr ich auf einem Vortrag im Hessischen Landesarchiv, dass die Unterlagen zur Entnazifizierung hessischer BürgerInnen in Wiesbaden archiviert sind – nur anderthalb Kilometer vom Kindergarten meiner Tochter entfernt. Weitere Dokumente über meine Großeltern erhielt ich aus dem Bundesarchiv in Berlin.

Durch die Brille der anderen sehen

Das Weltgeschehen dieser Zeit lässt sich mit Büchern und Zeitungen sehr gut nachvollziehen. Eindrucksvolle Ausstellungen in Museen lassen Zeitzeugen sprechen und geben einen Eindruck wie die Zeit in der Zeit erlebt wurde. Besuche in den Auswandererhäusern von Hamburg und Bremerhaven gaben mir einen Eindruck, wie Emigranten ihre Reise damals erlebten.

Sehr genossen habe ich eine Reise nach New York mit meiner Mutter. Wir besuchten Ellis Island und schlenderten durch Manhattan mit seinen alten Gebäuden, die heute noch so beeindruckend sind wie damals. Auf Long Island besuchten wir das Haus, im dem meine Großmutter seinerzeit als Kindermädchen gearbeitet hatte. Die Krönung meiner Nachforschungen aber war meine eigene Transatlantikreise mit der Queen Mary 2 von Southampton nach New York. Eine Woche auf hoher See mit der frühmorgendlichen Ankunft in New York, der Blick auf die Freiheitsstatue, ganz in Gedanken an meine mutige Oma, die den gleichen Weg 90 Jahre vorher zurückgelegt hatte.

Sieben Sommer – ein biografischen Briefroman

Nach rund 16 Jahren habe ich all meine Erfahrungen und Erkenntnisse aus den Recherchen in einem Buch zusammengeführt. Es ist ein biografischer Briefroman und so genau wie nur möglich an der Realität. Die Originalbriefe meines Großvaters wurden ergänzt um Schlagzeilen aus historischen Zeitungen, und weitere Dokumente, die ich im Rahmen meiner Nachforschungen fand. Die Briefe meiner Großmutter sind fiktiv und erzählen ihre Geschichte – so, wie sie gewesen sein könnte.

Mein Wunsch war zu verstehen, nachzuvollziehen was beide angetrieben und zusammengehalten hat – über die Jahre und über die Entfernung und im Spannungsfeld der Zeit. Durch meine Recherchen habe ich viel gelernt über die Geschichte, über meine Großeltern und ganz besonders über mich.

Persönliche Nebenwirkungen

Ich habe meine Großeltern geliebt und sehr lange Zeit um mich gehabt, beide sind weit über 90 Jahre alt geworden. Intensiv kennengelernt habe ich sie aber erst durch meine Recherchen. Wie war das Leben im New York der 30er Jahre, warum blieb meine Oma sieben Jahre und was trieb meinen Opa in die SS und die NSDAP? Wie fand er, dass sie die ganze Zeit über bei einer jüdischen Familie arbeitete? Die Geschichte der beiden hat mich geprägt – obwohl wir zu ihren Lebzeiten nie intensiv oder gar kritisch darüber gesprochen haben. Meine Großeltern haben mir dennoch Werte mit auf meinen Lebensweg gegeben – gute und hilfreiche, aber auch hinderliche. Das Beste aber: sie waren mir während der Zeit der Recherche ganz nah.

Vom Hobby zur Berufung – ein Plädoyer

Die Beschäftigung mit meiner Familiengeschichte hat mich sehr berührt. Im Nachhinein bereue ich, dass ich meine Großeltern zu Lebzeiten nicht häufiger über ihre Erinnerungen und Erlebnisse befragt habe. Aus diesen Erkenntnissen ist in den letzten Jahren meine Berufung entstanden. Ich unterstütze heute Menschen, die die Geschichte ihrer Familie entdecken und bewahren möchten. Sich mit seinen Vorfahren zu beschäftigen hat immer auch etwas mit sich selbst zu tun. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen prägen uns durch ihre Erziehung und vermutlich auch durch ihr Erbgut (zum Stichwort Epigenetik werde ich hier bald einen Blogartikel schreiben).

Auf ein Wort…

Nicht immer sind Erinnerungen und Erlebnisse schön. Die persönliche Beschäftigung damit kann therapeutisch sein, ersetzt aber auf keinen Fall eine Therapie. Solltest du also mit einzelnen Verwandten traumatische Erfahrungen gemacht haben hole dir bitte professionelle Hilfe. Wenn du Fragen dazu hast oder dir unsicher bist, kannst du dich auch gerne bei mir melden.